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„Ohne Mut passiert gar nichts.“

Unternehmerin Angelika Reichelt im Gespräch

1969 gründete Angelika Reichelt mit ihrem damaligen Mann das Elektronik- und Computertechnikversandhaus Reichelt Elektronik. 1990 wurde sie alleinige Inhaberin. Dr. Daniela Bravin, zuständig für den Bereich „Female Entrepreneurship“ im Projekt EXIST-Potentiale der Jade Hochschule, wollte von der erfolgreichen Gründerin wissen, wie sie trotz herausfordernder Startbedingungen und eines nicht immer einfachen Umfeldes ihren Weg gegangen ist.

Bravin: Wie haben wir uns die Anfänge von Reichelt Elektronik vorzustellen?

Reichelt: Mein damaliger Mann und ich hatten einem befreundeten Ehepaar unsere Ersparnisse von 1000 DM geliehen, da diese das Geld dringend benötigten. Als wir nach einem Jahr das Darlehen zurück bekamen, haben wir lange überlegt, wie wir dieses Geld vernünftig verwenden. Eigentlich wollten wir eine Zeltausrüstung kaufen, aber dafür reichte dieser Betrag nicht. Mein Mann, der Radio- und Fernsehtechniker war, hatte die Idee, neu am Markt angebotene Antennenverstärker zu vertreiben, die deutlich günstiger waren als das führende Produkt. Diese kosteten ca. ein Drittel. Wir haben für 500 DM diese neuen Antennenverstärker gekauft und die anderen 500 DM in eine Anzeige in einer Fachzeitschrift für Elektronik investiert. Für uns war es eher eine Gründung im Nebenerwerb. Mein Mann hatte sich auch für eine Anstellung als Lehrlingsausbilder beworben. Als er hierfür eine Zusage bekam, begann das Geschäft gerade anzulaufen. Nach langen Überlegungen, haben wir uns für den Ausbau des Versandes und damit für das Unternehmen entschieden.

Angelika Reichelt (Foto: privat)
Angelika Reichelt (Foto: privat)

Ich war Hausfrau mit zwei kleinen Kindern, wir wohnten in einer Wohnung in Wilhelmshaven; und ich war froh, nun doch stundenweise den kaufmännischen Teil des Unternehmens übernehmen zu können. Die Anfänge waren sehr bescheiden, die Geschäftsausstattung bestand aus einer Reiseschreibmaschine, einem Stempel, einem Telefon und einer Küchenwaage. Für die Kartonagen sorgte ein Nachbar, der eine Drogerie betrieb und uns die Kartons, in denen er seine Ware bekam, überließ. Nach einem halben Jahr gab es einen Moment, in dem wir überlegten, wieder aufzugeben. Wir steckten jeden Cent, der über war, in neue Ware. Doch genau in diesem Moment zog das Geschäft an. Nach und nach erweiterten wir unser Lieferprogramm um Transistoren, die uns von dem Lieferanten der Antennenverstärker angeboten wurden. Wir suchten uns weitere Lieferanten und konnten sowohl das Portfolio als auch den Umsatz erweitern.

Bravin: Sie haben sich in Bezug auf die Räumlichkeiten immer wieder verändert und somit dem Wachstum angepasst.

Reichelt: Ja – von der Wohnung ging es in ein Einfamilienhaus, in dem wir später den Keller, die Garage und den Dachboden voll mit Ware und Kartonagen hatten. Von dort ging es in eine Kombination von Einfamilienhaus mit angegliederten Geschäftsräumen, danach ging es in ein Geschäftshaus mit 750qm Büro- und Lagerfläche in der westlichen Marktstraße.

Es ging immer nur Schritt für Schritt, doch jeder dieser Schritte war für uns groß.

Einige Leute um uns haben gedacht, wir wären verrückt. Das Lebensziel meiner Eltern für mich war, dass ich die Stelle meines Vaters in der Verwaltung bei der Polizei nach seiner Pension übernehmen würde. Aber ich wurde, obwohl ich anfangs eher eine Bremse in Bezug auf unsere Fima war, immer mutiger und trug alle Entscheidungen mit. Zu jeder Unternehmung gehört natürlich auch ein bisschen Glück, und so sind wir nie in ernsthafte Krisen mit unserem Unternehmen gekommen.

Bravin: 1990 haben Sie das Unternehmen vollständig übernommen und waren von da an alleinige Inhaberin. Wie kam es dazu?

Reichelt: Mein geschiedener Mann hatte nach über 20 Jahren keine Freude mehr an dem Wachstum und den Herausforderungen, die mit dem Unternehmen verbunden waren. Durch berufliche und private Differenzen, die sich nicht beheben ließen, wurde eine Trennung unvermeidlich. Da meine Töchter inzwischen auf eigenen Füßen standen, war für mich die Arbeit im Betrieb das Wichtigste. Einer unserer Lieferanten war an dem Unternehmen interessiert und gab ein entsprechendes Kaufangebot ab. Für mich wäre es sehr schwer gewesen, in fremde Hände zu geben, was ich mit aufgebaut hatte. So erklärte ich meinem Mann, dass auch ich an dem Kauf des Betriebes interessiert war. Das war schon ein großer Schritt für mich: Keine Ahnung von Elektronik, keine vernünftige Warenlogistik, kein Controlling, kein Marketing, so gut wie keine Öffentlichkeitsarbeit.

Meine Eltern waren sehr gegen meinen Entschluss, und ich hätte für diese Entscheidung von ihnen keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten. Doch ich hatte mich entschieden, habe die Ärmel hochgekrempelt und angepackt. Durch die Auszahlung an meinen Mann musste ich mich für die damaligen Verhältnisse verschulden, obwohl ich auf privates Vermögen verzichtet habe. Außerdem musste der Kredit für das von uns gekaufte Teileigentum des Geschäftshauses in der Marktstraße noch komplett getilgt werden.

Female Entrepreneurship

Entstanden ist das Interview im Rahmen des Projektes EXIST-Potentiale, das sich zum Ziel gesetzt hat, den Gründungsgeist an der Jade Hochschule und in der Region zu stärken. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Abbau von Gründungshemmnissen bei Frauen, was gezielt durch den Bereich „Female Entrepreneurship“ innerhalb des Projektes realisiert wird.

Die Interview-Reihe #outofherbox soll Frauen nicht nur spannende Gründungsvorbilder, sondern auch Inspiration für die eigene Unternehmensgründung bieten. Mehr Interviews und Informationen über das Projekt sowie über den Bereich Female Entrepreneurship finden Sie auf jadestartupbox.de/female-entrepreneurship.

Bravin: Welches Verhältnis haben Sie zum Risiko?

Reichelt: Ich besitze schon ein sehr hohes Maß an Risikobereitschaft, aber das war nicht immer so. Es hat sich stets weiterentwickelt. Außerdem gehört dazu, sich auch mal gegen das eigene Sicherheitsgefühl aus dem Fenster zu lehnen. Ich bin mit der Zeit immer höhere Risiken eingegangen. Mit kurzfristigen, mutigen Entscheidungen konnte ich auch langjährige Mitarbeiter verblüffen, indem ich erklärte: „Wir machen das jetzt so, wir versuchen es, lasst es uns wagen!“ Diese Entscheidungsfreudigkeit finde ich sehr wichtig:

Lieber mal eine falsche als gar keine Entscheidung.

Falsche Entscheidungen können korrigiert werden. Aus meinem Elternhaus habe ich diese Eigenschaft nicht mitbekommen. Aber mit dem Erfolg wächst auch der Mut; das ist ein Prozess. Ohne Mut passiert gar nichts.

Bravin: Was sind Ihre Stärken?

Reichelt: Mir wurde erst sehr spät bewusst, dass ich doch mehr konnte als viele andere. Ich hatte gewisse Anlagen, die für mich jedoch selbstverständlich waren. Ich kann sehr gut mit Zahlen und mit Finanzen umgehen, gut Prozesse und Prozessketten erkennen. Nach meiner Ausbildung habe ich lediglich für drei Dinge Unterricht genommen, das sind Autofahren, Golf und Klavier spielen. Und diese Dinge sind nicht meine Stärken. In alle anderen Dinge bin ich hereingewachsen und habe mir das eine oder andere selbst beigebracht.

Bravin: Worauf sind Sie besonders stolz?

Reichelt: Als ich den Betrieb von meinem geschiedenen Mann übernommen habe, hatten wir 20 fest angestellte Mitarbeiter_innen und 50 geringfügig beschäftigte Frauen. Viele dieser Frauen konnte ich überreden, in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu wechseln. Geringfügig Beschäftigte wurden nicht mehr eingestellt. 20 Jahre später habe ich das Unternehmen mit 220 fest angestellten Mitarbeiter_innen verkauft. Noch heute bin ich eine Kritikerin dieser geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse. Fest angestellte Mitarbeiter_innen entwickeln ein ganz anderes Zugehörigkeitsgefühl zum Betrieb und bringen mehr Stabilität in das Unternehmen. Außerdem war es mir immer wichtig, nah am Menschen dran zu sein, nur so bekommt man auch einen Eindruck über die geleistete Arbeit der Personen. Viele dieser Frauen, die nach der Kinderpause bei uns anfingen, wurden gefördert und alle Frauen, die in leitenden Positionen arbeiteten, haben bei uns als Kommissionierinnen angefangen. Unsere Auszubildenden sind nahezu alle bei uns geblieben und arbeiten heute noch dort; wir hatten viele tolle Leute.

Im Laufe der Jahre habe ich einige Preise gewonnen: Den ersten Unternehmerpreis der Region – und das als erste Frau, den 1. Mutmacherpreis des Landes Niedersachsen und den 2. Mutmacherpreis der Bundesrepublik Deutschland, das Verdienstkreuz des Landes Niedersachsen und – ebenfalls als erste Frau – das Ehrenschild der Stadt Wilhelmshaven.

Generell bin ich jedoch stolz auf die gesamte Entwicklung des Unternehmens. Sicher habe ich nicht alles, aber auch sehr viel richtiggemacht und entschieden. Ich hatte immer ein sehr gutes Bauchgefühl, da konnte ich mich drauf verlassen.

Bravin: Welche Eigenschaften sind für Gründungsinteressierte in Ihren Augen am wichtigsten?

Reichelt: Man muss wissen, was man tut. Man muss lieben, was man tut. Und vor allen Dingen muss man an das glauben, was man tut. Wagen, riskieren, entscheiden und nicht resignieren. Und aus jedem Tief heraus muss man sich wieder aufrappeln zu neuen Taten.

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Angelika Reichelt über ihren Werdegang

Ich bin in zweiter Ehe verheiratet und habe zwei erwachsene Töchter. Ich bin die jüngste von vier Kindern. Mein Vater war im Krieg und kam erst spät aus der Gefangenschaft zurück. Meine Mutter wurde während des Krieges evakuiert, da sie zweimal in Wilhelmshaven ausgebombt wurde. Als meine Mutter mit uns vier Kindern zurück nach Wilhelmshaven kam, hatten wir keine Wohnung, wir wurden in den Kasernen „Gökerstraße“ untergebracht. In meiner Schule „Kirchreihe“ gab es drei Arten von Kindern, die Kinder aus dem Villenviertel, die aus den Kasernen und die Kinder aus den Baracken. Meine Eltern wollten nicht, dass ich auf eine höhere Schule ging, obwohl sich mein Klassenlehrer sehr dafür eingesetzte und in einem Gespräch versuchte, meine Eltern von dieser für mich wichtigen Schulveränderung zu überzeugen. Ich hatte zwar nach Abschluss der Volksschule einen Schulplatz in der Handelsschule; da ich jedoch gleichzeitig einen Ausbildungsplatz im Bereich Großhandel bekam, durfte ich die Handelsschule nicht besuchen. Das Geld war knapp, und meine Eltern waren der Meinung, dass sich eine höhere Schulbildung nicht lohnt, da Mädchen sowieso heiraten. Für einen Jungen hätten sie sich krummgelegt, aber für ein Mädchen war das nicht nötig. Und das Schlimme war: Ich habe meinen Eltern geglaubt und mit 19 Jahren geheiratet. Ich werfe meinen Eltern dieses Verhalten nicht vor. Sie wussten es nicht besser, doch für die heutige Generation ist das vermutlich schwer vorstellbar. Damals war diese Sichtweise normal.

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  • Katrin Keller
    Katrin Keller

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