Kolumne: Sei so, wie Du bist!

Von Prof. Dr. Andreas Schelske, erschienen in der Wilhelmshavener Zeitung

Warum wirkt jemand authentisch? Zunächst steht Authentizität in den Neuen Medien hoch im Kurs, weil Leser glauben, dass jemand ehrlich sei, wenn er authentisch wirkt. Böse Zungen würden sagen, wer sich so nonkonform oder gar blöde auf YouTube inszeniert, der lügt nicht – der ist so.

Gegenüber dem Fernsehen, Radio oder der Zeitung meinen internetaffine Rezipienten oft, dass sie dort selten jemanden wahrnehmen, der authentisch wäre.

Und wer nicht authentisch sei, dem könne nicht geglaubt werden.

Journalisten wird mitunter nicht geglaubt, weil sie sich nicht nonkonform genug geben, um authentisch zu wirken. Konformität wirkt nie authentisch. Sie wirkt unglaubwürdig, weil sie eingeübt oder geschauspielert ist.

Bei Influenzern soll nichts eingeübt erscheinen. Ihre mediale Präsenz wirkt authentisch, obgleich sie oft mit minderer Qualität recherchiert haben. Doch mit Authentizität lassen sich alternative Wahrheiten und Fake News glaubwürdig verbreiten. Für die Glaubwürdigkeit einer Nachricht - so scheint es - ist nicht mehr so sehr die hochwertige Recherche entscheidend, sondern derjenige, der sie ausspricht. Donald Trump schreiben Journalisten beispielswiese sowohl eine mächtige Authentizität als auch eine besondere Unwahrheit seiner Aussagen zu. Donald Trump wirkt authentisch, weil er sich nicht in standesgemäß gebotener Zurückhaltung übt. Daraus würde folgen, je authentischer jemand wirkt, je mehr wird ihm gegenwärtig geglaubt, obgleich er die größten Täuschungen verbreiten könnte.

„Sei so, wie Du bist“ hat man dem Skirennläufer Felix Neureuther mit auf dem Weg gegeben, um als TV-Experte zu moderieren. Neureuther glaubt, er könne nur dann authentisch über seinen Sport berichten, wenn er sich so gibt, wie er ist. Authentisch wirkt demnach der, der sich als ein Original behauptet, obwohl ihm die Fälschung oder Schauspielerei möglich ist. Neureuther praktiziert, was auch Philosophen beschreiben. Authentisch sei jemand, der ohne Rücksicht auf äußere Umstände versucht, immer er selbst zu sein und seinen unverfälschten Willen nach außen kommuniziert.

Offensichtlich ist Neureuther ein guter Philosoph, wenn er versteht, dass er so kommunizieren will, wie er eben ist. Allerdings gibt es ein Problem. Wie kann Neureuther seine Echtheit und Authentizität beweisen? Würde er immer im identischen Stil moderieren, dann würde er nicht mehr authentisch wirken, weil er sich konform verhält. Würde er sein Moderationsstil stets variieren, dann könnte ihm nachgesagt werden, dass seine nonkonforme Selbstinszenierung unecht und beziehungslos zu sich selbst wirkt. Er würde also nicht authentisch wirken. Woran liegt das? Authentizität als Behauptung ist problematisch, weil sie nicht überprüfbar ist. Weder Neureuther noch seine Zuschauer können überprüfen, ob er wirklich authentisch kommuniziert. Für die Authentizität einer Person gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis. Selbst wenn Neureuther behaupten würde, dass er in einer Situation wirklich, wirklich authentisch sei, dann würden ihn die Zuschauer selten als authentisch einstufen. Wer seine Authentizität erst versichern muss, dem begegnet sein Publikum eher skeptisch.

Soziologisch lässt sich beobachten, dass Authentizität als eine normierte Rolle in den Medien erfolgreich funktioniert.

Für die authentisch wirkende Selbstinszenierung in den Social Media ist dort folgende Anleitung zu finden: 1) Sei selbstkritisch. 2) Vergleiche Dich weniger mit anderen. 3) Entwickle deinen eigenen Stil. In soziologischer Perspektive wäre dem noch hinzuzufügen, dass es erfolgversprechend scheint, seine Authentizität als Rollenmodell durch nonkonforme, spontane und emotionale Verhaltensauffälligkeiten zu unterstreichen. Selbst wenn jemand die Influencer auf Instagram für nicht authentisch hält, weil sie offensichtlich Authentizität schauspielern, könnten sie philosophisch fundiert erfragen, wie denn diese abwertende Unterstellung wohl zu beweisen sein solle. Nie werden wir wissen, ob sich jemand authentisch zeigt oder dies nur vorspielt.

Wenn gegenwärtig in den Social Media und in der internationalen Politik authentisch wirkende Populisten erwählt werden, dann kann dies darauf hinweisen, dass die klassischen Medien und die politischen Parteien an Vertrauen verloren haben. Wer möchte schon der Kanzlerin, der Tagesschaumoderatorin oder dem Papst glauben, wenn sie alle womöglich sozial eingeübte Rollen vorspielen, die der jeweilige soziale Kontext von ihnen verlangt und sie diese nicht selbst vollständig ehrlich vertreten? Man stelle sich vor, der Papst mache nur seinen Job. Wäre der Papst nicht authentisch, fielen viele vom Glauben ab. Diejenigen, die sich so zeigen, wie sie sind, genießen gegenwärtig ein hohes Vertrauen, weil zumindest wahrzunehmen ist, dass sie selbst und ihre „Wahrheiten“ nicht von gesellschaftlichen Konventionen beeinflusst sind. Sie meinen es absolut ehrlich.

Die Authentischen spielen scheinbar keine Rolle. Wer anderes behauptet, der lügt, weil er nichts beweisen kann.

Unglücklich ist, dass Scharlatane berechnend soziale Konventionen verletzen, um ehrlich zu wirken, obgleich sie womöglich Falschmeldungen und alternative Wahrheiten mitteilen. Doch zum Glück ist die Falschmeldung - anders als die Authentizität von Personen - mit rationalen Methoden aufdeckbar. Wahrscheinlich nimmt Angela Merkel ihre Rolle als Kanzlerin nicht vollständig authentisch ein. Dieses Verhalten müsste für die gesellschaftliche Vertrauensbildung in das politische System einerseits sehr vernünftig sein und andererseits wird es hoffnungslos sein, wenn Wähler charismatische Populisten aus Enttäuschung über das konventionelle System suchen. Die Sehnsucht nach authentischen Multiplikatoren könnte daher als demokratisches Statement der vom politischen System enttäuschten Wähler interpretiert werden.

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