Ein ach so nettes Netz darf unser Leben immer mehr dominieren: das Internet.
Erlebt wird oft nur noch in Sequenzen von Instagram-Stories und WhatsApp-Chats. Und gleich posten, am besten schon im Moment des guten Gefühls. Das verkommt dann allerdings zum geplanten Showauftritt für die Anderen, wer und wo die auch immer sind. Und die Identitätspflege in den vielen Profilen verlangt auch viel Zeit. Also brauchen wir Routinen. Und hier sind die mindestens drei fest einstudierten Posen vieler Ichlinge: Ich und der Eifelturm, Ich und mein Essen und Ich mit den Meinen beim Spaßhaben. Erlebt wird, um dabei schon davon erzählen zu können. Das Internet multipliziert unsere digitalen Doppelgänger in viele der Netze, die wir hofieren, letztlich auch, weil sie uns zurück hofieren, wir werden geliked, gerankt, kommentiert und beachtet. Wir ernten Aufmerksamkeit, also sind wir!
Und all das passiert, egal wo wir sitzen oder stehen. Hauptsache ist, wir sind drin. Problematisch dabei ist, dass wir damit gleichzeitig draußen sind aus dem Ort, an dem wir uns befinden. Wir sitzen am Tisch mit anderen Smartphoneträgern und schreiben mit dem Netz. Bestenfalls zeigen wir ein lustiges Video, das in der Community kreist, bis es als langweilig ausgemustert wird. Der kleine Tagtraum vor Ort weicht dem großen Alptraum neuer Mails. Beim Lesen der Nachricht to go stolpern wir dann über ein unsichtbares Kleinkind und haben Nacken statt Rücken. Wir laufen und fahren nach Navi und verlernen die eigenständige Orientierung. Wirklich vor Ort sein ist ein fremdes Gefühl geworden. Und so werden uns die Orte immer egaler, wir vergessen, wo wir gerade sind, und dass wir gerade hier sind, weil uns die Netze ewig an sich binden. Da ist immer wieder Neues los. Im Sturmfeuer der Möglichkeiten kostet schon das Abwägen der richtigen Lese-Intensität enorme Zeiten, wie soll man da noch irgendwo ganz da sein können.
Aber die Orte rächen sich: Sie verlieren einfach ihren Charme. Weil wir die Orte wegen permanenter Arbeit an Netz und Profil nicht beachten, stellen uns marode Wege just jene Stolperfallen, in die wir samt Handynacken treten, - und schon haben wir Rücken. Weil wir im Netz online oder in Tollstadt shoppen, wandeln sich die Geschäfte ums Eck in tote Fensterscheiben. Und da sich keiner mehr für die Orte interessiert, werden sie rational durchfunktionalisiert oder veröden einfach zu Nichtorten.
Wir sollten das nicht länger hinnehmen. Ich möchte wieder Orte beleben und Orte wiederbeleben. Ich möchte Orte bewohnen, die ihre Daseinsberechtigung mit meinem „Gernhiersein“ verbinden. Orte, an denen man sich trifft und im Gespräch bleibt. Orte, an denen man sich real vernetzt und über gemeinsame Projekte so etwas wie Zuhause im Gemeinwohl schafft. Ein Stammcafé kann ein Anfang sein, mit seinem Gemisch aus Menschen, Alt und Jung, Jeans und Tuch, Harzer und Hausfrau, Schnack und Klön. Oder eine Hausgemeinschaft. Oder ein Kiezfest. Oder eben die Aufforstung von Leerstand in der Einkaufsstraße. Es gibt so viele reale Orte, bei deren Gestaltung das Leben Pate steht. Aber erst müssen wir die Orte wieder mehr hofieren, dann finden sich auch haltenswerte Netze.
Und wenn man dazu ab und zu sein Smartphone benutzen will - meinetwegen.
Zur Person
Prof. Dr. Stephan Kull ist seit 2002 Professor für ABWL, insbesondere Marketing und E-Commerce im Fachbereich Wirtschaft an der Jade Hochschule in Wilhelmshaven und leitet dort u.a. die Online-Studiengänge in BWL (Bachelor/Master). Darüber hinaus lehrte er 10 Jahre als Gastprofessor für Marketing an der Shanghai University of International Business and Economics (SUIBE) in China. Zudem ist der mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftler in Beratungsprojekten und diversen Gremienbeiräten aktiv. Sein Lehr- und Forschungsgebiet erstreckt sich von allgemeinem und handelsspezifischem Marketing über internetbasiertes Marketing, Place-/Stadtmarketing, Erlebnisorientierung und Nachhaltigkeit bis hin zur Digitalisierung im Wechselspiel von Omnichannel-Welten des Handels.