Neues digitales Labor für die Region
Ab Frühjahr 2021 bietet die Jade Hochschule ein neues Digital-Labor, das auch Unternehmen und Kommunen für die Bauplanung nützlich sein kann.
ForschungsNotizen (FN): Herr Hollermann, Sie verantworten den Aufbau des „Digital Engineering Lab“. Was ist das Besondere an diesem Labor?
Professor Dr. Sebastian Hollermann (SH): Als eines der ersten bietet unser Labor eine stereoskopische Mehrbenutzer-Cave, also einen Raum, in dem mehr als zwei Personen gleichzeitig mit einer Projektion interagieren und miteinander kommunizieren können. Solche Caves für mehr als zwei Benutzer bieten in Deutschland nur noch die Universität Weimar und das Fraunhofer Institut in Stuttgart. Auch weltweit ist ein solches Angebot sehr selten.
Dadurch, dass wir in der Cave als Team ein virtuelles Modell bearbeiten können, wird die Entwicklung komplexer Prozesse unter Berücksichtigung verschiedener Rollen und Sichtweisen möglich. Wir können ein Baustellenmodell beliebig verändern, die Veränderungen testen und fachspezifisch beurteilen. Die Modellplanung wird viel schneller und effizienter, da wir Veränderungen ja nicht nur virtuell durchspielen, sondern sehr leicht verwerfen und neu erproben können. Dass dadurch keine großen Kosten entstehen, ist für viele Industrien, auch für das Bauwesen, ein riesiger Schritt.
FN: Welche Technologie wird in der Cave eingesetzt?
SH: Im Kern unseres Labors steht die Mixed Reality, also die derzeit höchste Stufe der Bearbeitung digitaler Modelle. Wir erweitern die reale Umgebung durch digitale Projektionen – das allein wäre Augmented Reality [Englisch für erweiterte Realität, Anm. der Red.] – und schaffen zusätzlich die Möglichkeit, mit der virtuellen Welt und den anderen zugeschalteten Personen zu interagieren. In unserem Fall ist die Mixed Reality anwendbar auf mindestens drei Personen beziehungsweise Rollen gleichzeitig.
Übrigens planen wir mittelfristig, dass sich auch Personen von anderen Orten zuschalten können. Das vereinfacht und beschleunigt die Zusammenarbeit auch über Distanzen hinweg.
FN: Wird das Labor weitere Möglichkeiten bieten?
SH: Neben der Cave stellen wir eine autonome Plattform mit einem Roboterarm zur Verfügung. Damit ermöglichen wir eine Mensch-Maschine-Interaktion in einer virtuellen Umgebung. Der Roboter und die Plattform sind echt, alles andere wird projiziert. Auch hier setzen wir wieder Mixed Reality ein.
Der Roboter hat außerdem ein anderes Alleinstellungsmerkmal: Wir verwenden eine sehr unempfindliche Plattform, die auch auf unebenen Untergründen arbeiten kann. Die meisten autonomen Plattformen sind für 100-prozentig glatte Industrieanlagen gedacht. Unser Roboter wird zwar nicht über Kanthölzer fahren können, ist aber durchaus tauglich für normale Unebenheiten, wie sie zum Beispiel auf Baustellen vorkommen.
Gut zu wissen
FN: Welche neuen Chancen eröffnen sich durch das Labor für die Forschung?
SH: Für die Forschung sehen wir viele neue Perspektiven. Im Bauwesen können wir zum Beispiel untersuchen, wie sich die aktuelle tradierte Arbeitsweise auf neue digitale Arbeitsformen umstellen lässt. In der Produktionsplanung könnte man sich durch eine virtuelle Fabrik bewegen und die Produktionslinien testen, oder die Mensch-Maschine-Interaktion in vielen Varianten überprüfen.
Wir haben das Labor bewusst fachübergreifend konzipiert. Für das Gesundheitswesen sind zum Beispiel Forschungen an kognitiven Systemen denkbar. In der Geoinformation können wir die Produktionstechnik oder Geovisualisierung optimieren. In der Architektur werden komplexe Energiesimulationen möglich. Neben der fachspezifischen Forschung strebt unser Kollegium gemeinsame Forschungs- und Lehrprojekte an.
FN: Wie werden Sie das Labor in der Lehre im Bauwesen einsetzen?
SH: Zum einen plane ich, das Labor fest in der Lehre für Computergestütztes Design und BIM – Bauwerksdatenmodellierung – zu etablieren. Das verschafft den angehenden Ingenieuren einen Erfahrungsvorsprung. Bisher lernen sie vor allem ein Modell zu erstellen – zum Beispiel ein 3D-Modell eines Gebäudes – und dieses in Ansätzen über eine 4D-Simulation zu analysieren. Das entwickelt sich gerade dahin, dass sie auch lernen, eine Bauablaufplanung oder Baukostenplanung zu machen.
Mit dem Labor können wir die Studieninhalte grundlegend erweitern. Die Studierenden können mit dem Labor sehr früh lernen, Änderungsprozesse im Planungsprozess realitätsgerecht durchzuspielen und mögliche Auswirkungen zu beurteilen. Sie nehmen dann verschiedene Rollen ein, zum Beispiel des Fachplaners, des Statikers und des Architekten, und spielen alle möglichen Änderungen durch. Diese Änderungen lassen sich im Labor visuell abbilden. Dadurch lernen die Studierenden, die Auswirkungen aller Maßnahmen zu beurteilen. Anders als Baustellen-erfahrene Profis sind Studierende in der Regel ja nicht trainiert, allein anhand eines Plans zu erkennen, welche Probleme oder Konflikte auf der Baustelle zu erwarten sind. Mit den Übungen im Labor lernen sie, schnell einzuschätzen, wo ein Plan funktioniert und wo nicht. Mit dieser Erfahrung können sie Anwendungsfälle leichter erschließen und haben einen Vorteil, wenn sie zum ersten Mal eine reale Baustelle betreten und beurteilen müssen.
FN: Können auch Unternehmen oder Kommunen das Labor nutzen?
SH: Auf jeden Fall! Das ist eines unserer Ziele. Das Labor soll für Firmen und Kommunen offen sein. Die Stadt Oldenburg zum Beispiel hat Interesse an einer Zusammenarbeit. Wenn die Stadt einen Platz neu plant, ist es für sie interessant, Bürgerinnen und Bürger mithilfe unsere Labors virtuell durch den neu geplanten Raum zu führen und im Vorwege zu erfahren, wie die Gestaltung ankommt.
Außerdem wollen wir das regionale „Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum Planen und Bauen“ einbinden. Mit dem Labor wollen wir den mittelständischen Unternehmen Technologien und Anwendungen zur Verfügung stellen, die dort normalerweise nicht zugänglich sind. Das Labor ergänzt insofern Projekte, die es in unserer Region bereits gibt.
FN: Welche Forschungsprojekte planen Sie mit dem Labor?
SH: Zum einen möchte ich die Zusammenarbeit auf Baustellen und die Manipulation in Modellen erforschen. Zum anderen würde ich gern ein Umsetzungsprojekt mit einem Unternehmen durchführen, das eine eigene Fragestellung technologisch untersuchen möchte. Das kann zum Beispiel Bemusterung sein – also die Auswahl der Produkte für ein Gebäude, vom Türgriff bis zu den Fliesen. Aber es kann sich auch um die Entwicklung von Prozessen handeln, wenn zum Beispiel Unternehmen an verschiedenen Standorten zusammenarbeiten. Wer arbeitet mit wem, wie und wann zusammen? Wie wird kommuniziert? Wo und wie werden die Informationen für alle zentral zugänglich gemacht? So ein Projekt fände ich natürlich besonders spannend.
FN: Lieber Herr Hollermann, vielen Dank für das Gespräch!
Wer ist am Digital Engineering Lab der Jade Hochschule noch beteiligt?
Neben Professor Dr. Sebastian Hollermann sind am Konzept für das Labor beteiligt: Professor Dr. Frank Wallhoff für die Assistiven Technologien des Fachbereichs Technik, Mensch und Gesundheit, Professor Dr. Thomas Luhmann für die Geoinformation – insbesondere die Bereichen Photogrammetrie und Geovisualisierung –, Professor Dr. Knut Partes für die Produktionstechnik, Professorin Dr. Ingrid Jaquemotte vom Labor für Virtuelle Welten und Professorin Anja Willmann für den Fachbereich Architektur.
Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!
Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.
Das Projekt hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.