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Wie können Pflegekräfte entlastet und der Pflegeberuf wieder attraktiver werden?

ForschungsNotizen der "Innovativen Hochschule Jade-Oldenburg!"

(Foto: Robert Kneschke/AdobeStock)
(Foto: Robert Kneschke/AdobeStock)

Ines Aumann-Suslin weiß, mit welchen Belastungen Pflegekräfte in ihrem Arbeitsalltag zu tun haben. Seit März dieses Jahres ist die Gesundheitsökonomin Professorin für Pflege- und Gesundheitsmanagement an der Jade Hochschule. Hier lehrt sie unter anderem im Studiengang Angewandte Pflegewissenschaft. Aus ihrer beruflichen Laufbahn bringt sie Expertise im Klinikmanagement und im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen mit.

Wie lässt sich die Digitalisierung sinnvoll einsetzen, um den Arbeitsalltag von Pflegekräften zu verbessern? Wir haben Aumann-Suslin gefragt.

Frau Aumann-Suslin, worin liegen aus Ihrer Sicht die größten Belastungen für die Pflegekräfte hierzulande?

Das deutsche Gesundheitswesen ist geprägt von einer extremen Überregulierung. Wir haben im Gesundheitswesen inzwischen mehr Gesetze als in der Atomindustrie, die viel extremeren Einzelrisiken vorbeugen muss.

Diese Überregulierung auf der einen Seite und der zunehmende Kostendruck auf der anderen führen dazu, dass sich der Arbeitsalltag für die Pflegekräfte in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert hat. Ihre Arbeit verdichtet sich stetig, es kommen immer mehr Dokumentationsaufgaben hinzu. Eine Studie durch HIMSS EUROPE (Europäische Gesellschaft für Informations- und Management Systeme im Gesundheitswesen) hat gezeigt, dass eine Pflegekraft im Durchschnitt 36 Prozent ihrer Arbeitszeit nur mit Dokumentationen verbringt. Das sind umgerechnet knapp drei Stunden pro Tag. Diese Zeit fehlt für die Pflege der Patient_innen. Vor diesem Hintergrund ist die Digitalisierung – neben dem weiteren Abbau des Verwaltungsaufwandes und einem Personalaufbau in der Pflege – ein wichtiger Baustein, um die Pflege zu entlasten.

Wie lässt sich die Digitalisierung am besten einsetzen, um die Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte zu verbessern?

Wenn über Digitalisierung im Gesundheitswesen gesprochen wird, fallen oft Begriffe wie Einsatz von Robotik, Therapieunterstützung mittels künstlicher Intelligenz oder ähnliches. Das sind tolle Ideen, aber meiner Meinung nach sind wir in der Pflege noch weit davon entfernt. Wir müssen uns zuerst mit den Grundlagen befassen.

Zuallererst müssen wir die Fachkräfte mithilfe der Digitalisierung von ihren größten alltäglichen Belastungen befreien. Nur so können sie sich wieder auf ihre primäre Tätigkeit – die Patient_innenversorgung – konzentrieren. Mit der digitalen Patientenakte in Kombination mit Spracherkennung oder automatisierten Vitalzeichenerfassungsgeräten zum Beispiel können wir die Dokumentationsaufgaben vereinfachen und auf ein machbares Maß reduzieren. Damit können wir alle beteiligten Fachkräfte in der Pflege und der Medizin entlasten.

Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg. In vielen Kliniken fehlt heute immer noch eine durchgängige WLAN-Infrastruktur. Diese stellt aber die Basis für digitalisierte Dokumentations- und Pflegeprozesse dar. Das Krankenhauszukunftsgesetz schafft hier gute Ansätze, um fehlende Infrastruktur aufzubauen.

Wenn die drängendsten Probleme angegangen sind – welche weiteren Chancen birgt die Digitalisierung noch für die Pflegekräfte?

Mit der Digitalisierung können wir ganz neue Arbeitsfelder für die Pflege schaffen. Es werden Personen in den Einrichtungen benötigt, die die Fähigkeiten besitzen, pflegerische Prozesse ganzheitlich zu durchdenken und diese mit digitalen Lösungen verknüpfen zu können. Wenn es nämlich beispielsweise darum geht, eine Software zur Pflegeplanung einzuführen, dann reicht es nicht, wenn wir gute Informatiker haben, die die Software einführen. Jede Software muss individuell an die Prozesse in dem jeweiligen Pflegebereich angepasst werden, die Pflegekräfte müssen im Umgang mit der Software geschult werden und der Mehrwert muss für alle Beteiligten sichtbar sein. Für diesen Veränderungsprozess brauchen wir qualifiziertes Pflegepersonal. Dadurch eröffnet sich auch die Chance, den Pflegeberuf wieder vielfältiger und attraktiver zu gestalten.

Welche Herausforderungen kommen durch die Digitalisierung auf die Pflege zu?

Digitalisierung kann nur erfolgreich sein, wenn die am Prozess beteiligten Mitarbeiter_innen, die Digitalisierung umsetzen können, es auch wollen und dürfen. Das „dürfen“ ist dabei eine notwendige Voraussetzung, die durch die jeweiligen Führungskräfte gegeben sein muss.

Das „können“ müssen wir gezielt unterstützen, da diese Zielgruppe in ihrem Arbeitsalltag bisher kaum mit digitalen Techniken zu tun hatte. Es ist wichtig, eine enge Verzahnung von Aus-, Fort- und Weiterbildung aufzusetzen und die Digitalisierung fest in den Lehrplan zu verankern.

Was aber ein ganz wichtiger Erfolgsfaktor ist, ist außerdem das „wollen“. Nur wenn Fachkräfte einen klaren Mehrwert erkennen, werden sie die Umsetzung der Digitalisierung unterstützen.

Inwiefern gehen Sie in Ihren Lehrveranstaltungen auf die Motivation der Studierenden ein, sich mit den Möglichkeiten der Digitalisierung auseinanderzusetzen?

Um das „wollen“ zu unterstützen, ist es den meisten Fällen erstmal notwendig, unabhängig von dem Tool oder der Software, die eingesetzt wird, zunächst die Pflegeprozesse zu hinterfragen und eventuell anzupassen. Durch den zunehmenden Arbeitsdruck ist diese Kompetenz des Hinterfragens und des Anpassens der Abläufe in ihrer Bedeutung für den Arbeitsalltag der Pflegenden in den Hintergrund gerückt. Diese Kompetenz möchte ich fördern und wiederaufbauen.

Zudem können wir nur erfolgreich digitalisieren, wenn ein interdisziplinärer Austausch zwischen den beteiligten Abteilungen stattfindet. Zum Beispiel müssen die Bedürfnisse der Pflegekräfte und Mediziner_innen mit den Anforderungen der IT Abteilung und denen des Datenschutzes und der Betriebsräte in Einklang gebracht werden. Dafür bedarf es hoher Kommunikations- und Konfliktlösungskompetenzen.

Insbesondere möchte ich den Studierenden der angewandten Pflegewissenschaften das prozessuale, disziplinübergreifende Denken gepaart mit einer offenen Kommunikationskultur vermitteln. Ich wünsche mir, dass unsere heutigen Studierenden auch Treibende der Digitalisierung in ihren Einrichtungen werden.

Welche Auswirkungen kann die Digitalisierung für Patient_innen haben?

Viele Menschen haben im Zusammenhang mit Digitalisierungsmaßnahmen Angst vor Datenmissbrauch. Da wir aber in Deutschland sehr hochschwellige Datenschutzvorschriften haben, sehe ich das Risiko im Vergleich zu dem Nutzen, der dadurch gewonnen wird, als sehr gering an. Wir gewinnen durch die Digitalisierung eine Vielzahl an neuen, bisher nie dagewesenen Datenmengen, die wir für Forschungszwecke nutzen können. Diese Forschung kann helfen, die Pflege und Therapie der Patient_innen sicherer zu gestalten. Dafür ist es notwendig, dass wir weg kommen von einer Angstdebatte über mögliche Datenpannen, hin zu einem konstruktiven Dialog über den Mehrwert der Digitalisierung. Auch hier müssen wir das „wollen“ bei den Patienten_innen gezielt fördern, damit auch diese Zielgruppe die Digitalisierung akzeptiert.

Welche Forschungsprojekte planen Sie persönlich für die Zukunft?

Der Studiengang „Angewandte Pflegewissenschaft“ ist noch recht neu an der Jade Hochschule, sodass ich mich zurzeit primär dem Aufbau und der Sicherstellung des Studiums widme. Allerdings freue ich mich schon sehr, zukünftig gemeinsame Forschungsprojekte mit meiner neuen Kollegin Vanessa Cobus im Bereich eCare durchführen zu können. Mich interessiert dabei vor allem die Frage, wie wir die digitalen Kompetenzen der Pflegekräfte und insbesondere das „wollen“ bei der Umsetzung von Digitalisierungsmaßnahmen fördern können.

Was liegt Ihnen in der Lehre besonders am Herzen, was Sie den Studierenden vermitteln möchten?

Im Rahmen meiner Lehre möchte ich jeder und jedem einzelnen Studierenden den Blick über den Tellerrand vermitteln. Die Pflegekräfte wurden in der Vergangenheit wenig bei Entscheidungen und Veränderungen eingebunden. Dies führte dazu, dass sich die Pflege abgesondert hat. Ich möchte den Pflegekräften aufzeigen, warum die Dinge derzeit im Gesundheitswesen so sind, wie sie sind und was jede und jeder einzelne von ihnen tun kann, um die Arbeit in der Pflege für sich selbst und für andere wieder ein Stück weit attraktiver zu gestalten.

Liebe Frau Aumann-Suslin, vielen Dank für das Interview!

Über Professorin Dr. Ines Aumann-Suslin

Aumann-Suslin ist Wirtschaftswissenschaftlerin und hat im Schwerpunkt Gesundheitsökonomie zum Thema Gesundheitsökonomische Aspekte zur Gesundheitsförderung und Prävention von chronischen Lungenerkrankungen promoviert. In einem Forschungsprojekt zum Thema Gesundheitsapps und im Rahmen ihrer Arbeit in einem großen kommunalen Klinikkonzern sammelte sie einschlägige Erfahrung rund um Digitalisierung im Gesundheitswesen. An der Jade Hochschule unterrichtet sie unter anderem in den Fächern Gesundheits- und Qualitätsmanagement, Gesundheitspolitik, Kommunikation sowie Projekt- und Prozessmanagement.

Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!

Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.

Das Projekts hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.
 

Ein Beitrag von:

  • Yukie Yasui
    Yukie Yasui

    yukie.yasui@jade-hs.de