| Präsidialbüro

Wie wird sich der Anteil der Menschen mit Hörbeeinträch- tigungen in der Bevölkerung Deutschlands entwickeln?

ForschungsNotizen der "Innovativen Hochschule Jade-Oldenburg!"

Um dieser Frage nachzugehen, haben Dr. Petra von Gablenz und Professor Dr. Inga Holube vom Institut für Hörforschung und Audiologie der Jade Hochschule zunächst die regionale Studie Hörstat durchgeführt. Die Forschenden untersuchten die Auftretenshäufigkeit von Hörbeeiträchtigungen in einer bevölkerungstypischen Stichprobe von 1903 Personen aus Oldenburg und Emden. Um die Untersuchungsergebnisse mit nationalen wie internationalen Untersuchungen vergleichbar zu machen, ermittelten sie das Hörvermögen der Teilnehmenden nach internationalen Standards.

„Der Goldstandard in der Hörforschung sind die Tonhörschwellen“

Für die Oldenburger und Emdener Untersuchungsteilnehmenden untersuchte die Studie die so genannten Tonhörschwellen. Sie beschreiben, ab welcher durchschnittlichen Lautstärke – beschrieben in Dezibel (dB) – eine Person Töne bestimmter Frequenzen hören kann. Die „mittlere Tonhörschwelle“ bezieht sich auf die Frequenzen 0.5, 1, 2 und 4 Kilohertz. Sie ist das Messkriterium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Hörbeeinträchtigung. Als hörbeeinträchtigt eingestuft werden jene Personen, die diese vier verschiedenen Töne auf ihrem besseren Ohr im Durchschnitt erst dann wahrnehmen, wenn der Lautstärkepegel mehr als 25 dB über der Schwelle junger Normalhörender liegt. Beträgt der Abstand 40 dB, wird eine Person als mittelgradig, ab 60 dB als hochgradig hörbeeinträchtigt und ab 80 dB als nahezu taub oder taub eingestuft.

Für die Ermittlung der mittleren Tonhörschwelle wurden bei allen Teilnehmenden der Studie auf jedem Ohr separat Töne in vier Frequenzen dargeboten und festgehalten, ab welcher Lautstärke die Töne wahrgenommen werden. Foto: Hörstat Foto: Hörstat
Für die Ermittlung der mittleren Tonhörschwelle wurden bei allen Teilnehmenden der Studie auf jedem Ohr separat Töne in vier Frequenzen dargeboten und festgehalten, ab welcher Lautstärke die Töne wahrgenommen werden. Foto: Hörstat Foto: Hörstat

„Die mittlere Tonhörschwelle ist international gebräuchlich“, erklärt von Gablenz, „weil sie unabhängig von Sprache, sozialen Kontexten und der subjektiv wahrgenommenen Hörfähigkeit eine eindeutige und einfache Vergleichsgröße darstellt.“

Andere Maße für Hörbeeinträchtigungen sind die Selbstauskunft über die Hörleistung und das Sprachverstehen. Beide werden durch die Tonhörschwelle beeinflusst. Aber das Sprachverstehen ist von Sprache abhängig und kaum international vergleichbar. Die Selbstauskunft passt häufig nicht zu den Ergebnissen der mittleren Tonhörschwelle und wird zudem von Faktoren beeinflusst, die mit Hören und Verstehen wenig zu tun haben. Beispielsweise berichteten ältere Teilnehmer_innen der Studie häufiger von einer subjektiv als gut erlebten Hörfähigkeit, auch wenn die Tonaudiometrie eine Beeinträchtigung feststellte. Aus diesen Gründen eignen sich die Selbstauskunft und das Sprachverstehen nur eingeschränkt für die Ermittlung der tatsächlichen Verbreitung von Hörbeeinträchtigungen beziehungsweise den internationalen Vergleich von Studien.

Welche Faktoren beeinflussen das Hörvermögen?

# Alter ist der bedeutendste Risikofaktor für Hörbeeinträchtigungen. Das heißt mit steigendem Alter der Proband_innen stieg der Anteil der Hörbeeinträchtigen. Zu diesem Ergebnis kommen alle Studien, so auch Hörstat. Das entspricht unseren Erwartungen im Alltag. Für die untersuchte Gruppe fanden sich hinsichtlich Alter und Hörbeeinträchtigung folgende Befunde im Detail:

– In der Gruppe aller 18- bis 70-Jährigen waren weniger als fünf Prozent hörbeeinträchtigt.
– Ab dem Alter von 50 Jahren stieg der Anteil der Hörbeeinträchtigten mit jedem Lebensjahrzehnt deutlich an (siehe Grafik).
– In der Gruppe aller über 70-Jährigen waren fast 60 Prozent hörbeeinträchtigt, dabei nahm insbesondere der Anteil mittel- und hochgradig Hörbeeinträchtigter zu.

Folgende Grafik bildet die relative Häufigkeit und Schwere ab, mit der Hörbeeinträchtigungen in den verschiedenen Altersgruppen auftraten:

Je älter die Proband_innen waren, umso häufiger wiesen sie eine Hörbeeinträchtigung auf. In der Gruppe der 30- bis 79-jährigen war der Anteil der gering- bis mittelgradig Hörbeeinträchtigten (rosa und hellrot dargestellt) am größten. Bei den über 80-Jährigen fanden sich anteilig mehr hochgradig Hörbeeinträchtigte und als fast taub oder taub eingestufte Personen (rote und dunkelrote Balken). Foto: Grafik zur Verfügung gestellt von Petra von Gablenz
Je älter die Proband_innen waren, umso häufiger wiesen sie eine Hörbeeinträchtigung auf. In der Gruppe der 30- bis 79-jährigen war der Anteil der gering- bis mittelgradig Hörbeeinträchtigten (rosa und hellrot dargestellt) am größten. Bei den über 80-Jährigen fanden sich anteilig mehr hochgradig Hörbeeinträchtigte und als fast taub oder taub eingestufte Personen (rote und dunkelrote Balken). Foto: Grafik zur Verfügung gestellt von Petra von Gablenz

# Männer hören etwas schlechter als Frauen.

  • Bis zum 80. Lebensjahr traten Hörbeeinträchtigungen bei Männern häufiger auf als bei Frauen. Dieser Unterschied zwischen den Geschlechtern ist in Deutschland aktuell geringer als in anderen, oft älteren internationalen Studien gezeigt.
  • Zahlenmäßig waren jedoch mindestens ebenso viele Frauen wie Männer von Hörbeeinträchtigung betroffen, weil Frauen im Durchschnitt älter werden.

Mit steigendem Alter verschlechterte sich die Hörleistung auch in Bezug auf Gleichaltrige. Die Lautstärkepegel, bei denen die Hälfte der Gleichaltrigen besser hörten (und die andere Hälfte schlechter), stiegen in einer beschleunigten Kurve an:

Das 50. Perzentil (durchgezogene Linien) des Tonhörverlusts markiert den Lautstärkepegel, bei dem die Hälfte der Gleichaltrigen besser hören. Die Hälfte der 80-Jährigen hört Töne ab einem Lautstärkepegel von etwa 30 dB. Die roten Linien zeigen für Frauen etwas geringere Tonhörverluste als für Männer (blaue Linien) an. Foto: Grafik zur Verfügung gestellt durch Petra von Gablenz
Das 50. Perzentil (durchgezogene Linien) des Tonhörverlusts markiert den Lautstärkepegel, bei dem die Hälfte der Gleichaltrigen besser hören. Die Hälfte der 80-Jährigen hört Töne ab einem Lautstärkepegel von etwa 30 dB. Die roten Linien zeigen für Frauen etwas geringere Tonhörverluste als für Männer (blaue Linien) an. Foto: Grafik zur Verfügung gestellt durch Petra von Gablenz

# Beruflich bedingter Lärm erhöht das Risiko für eine Hörbeeinträchtigung um mehr als das Doppelte gegenüber dem Fehlen von Berufslärm.

  • Der regionale Vergleich innerhalb der Studie Hörstat zeigt: Lärm am Arbeitsplatz erklärt teilweise den höheren Anteil der hörbeeinträchtigten Emdener_innen (19 %) im Vergleich mit den Oldenburger_innen (14 %). Mehr Emder als Oldenburger Studienteilnehmende gaben an, unter Arbeitsbedingungen beschäftigt gewesen zu sein, für die heute Gehörschutzpflicht gilt. Wirtschaftliche Hintergründe sind hier zu nennen: In Emden dominiert der produktive Wirtschaftssektor mit Automobilindustrie und Schiffswerften, während die Arbeitsplätze in Oldenburg durch Verwaltung, Dienstleistung und Handel geprägt und mit weniger Lärmbelastung verbunden sind.
  • Lärmbelastung ist ein zentraler Risikofaktor, kann allerdings die bestehenden sozialen Unterschiede im Tonhörvermögen nicht vollständig erklären.

Bei den Proband_innen ab 60 Jahren hatte das berufliche Betätigungsfeld einen größeren Einfluss auf die Hörleistung als in jüngeren Altersgruppen:

Die über 60-Jährigen (gelbe und grüne Linie) aus den Berufsfeldern Produktion und Verkehr waren deutlich häufiger hörbeeinträchtigt als Gleichaltrige, die in der Verwaltung, dem Gesundheitswesen oder in der Lehre tätig waren. Bei den jüngeren Proband_innen (blaue und rote Linien) spielte unterschieden sich die Berufsgruppen bezüglich der Hörleistung geringer. Foto: Grafik zur Verfürung gestellt durch Petra von Gablenz
Die über 60-Jährigen (gelbe und grüne Linie) aus den Berufsfeldern Produktion und Verkehr waren deutlich häufiger hörbeeinträchtigt als Gleichaltrige, die in der Verwaltung, dem Gesundheitswesen oder in der Lehre tätig waren. Bei den jüngeren Proband_innen (blaue und rote Linien) spielte unterschieden sich die Berufsgruppen bezüglich der Hörleistung geringer. Foto: Grafik zur Verfürung gestellt durch Petra von Gablenz

„Zeit und Raum beeinflussen das Hörvermögen“

„Wer das menschliche Hörvermögen untersucht, hat es auf besondere Weise mit den Dimensionen Zeit und Raum zu tun“, fasst von Gablenz zusammen. „Zeit im Sinne von Alterung ist in gesamtgesellschaftlicher Perspektive sicherlich der wichtigste Faktor. Dabei beeinflussen die Lebensumstände wie ‚gut‘ man altert. Das gilt auch für das Hörvermögen. Starke Lärmbelastung oder andere Stressoren können Hörstörungen hervorrufen oder verstärken. Darüber hinaus spielt auch die historische Zeit eine Rolle. Die Gesundheitsversorgung, Wohlfahrtspflege und Arbeitsmarktstrukturen wandelten sich in den vergangenen Jahrzehnten. Noch Mitte des letzten Jahrhunderts haben viele Menschen unter Bedingungen gearbeitet, unter denen heute und hierzulande ein Hörschutz Pflicht wäre.

Raum ist von Bedeutung, weil die Lebensbedingungen selbstverständlich nicht allerorts gleich sind. In einem weiteren Sinne betrachten wir deshalb auch den sozialen und gesellschaftlichen Kontext als Raum, der das Hörvermögen beeinflusst.“

16 Prozent der Erwachsenen in Deutschland sind hörbeeinträchtigt

Im Anschluss an HÖRSTAT führten die Forschenden die Ergebnisse mit denen einer vergleichbaren Untersuchung aus Aalen in Süddeutschland zusammen. Auf Basis von insgesamt 3105 bevölkerungstypischen Datensätzen bestätigten Petra von Gablenz, Eckhard Hoffmann und Inga Holube (2017) die Schätzung, nach der etwa 16 Prozent der Erwachsenen in Deutschland hörbeeinträchtigt sind. Bezogen auf den Bevölkerungsstand von 2012 gehen die Forschenden von 10-12 Millionen hörbeeinträchtigter Menschen ab 18 Jahren in Deutschland aus.

Alle fünf Jahre steigt der Anteil der Hörbeeinträchtigten um etwa ein Prozent

Auf Grundlage der Daten aus Nord- und Süddeutschland nahmen von Gablenz, Hoffmann und Holube schließlich eine Einschätzung hinsichtlich der Frage vor, wie sich der Anteil der Hörbeeinträchtigten in der Bevölkerung in Deutschland entwickeln wird. Ihren Prognosen legten die Forschenden amtliche Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung sowie der Verteilung beruflicher Bildungsabschlüsse nach dem Mikrozensus (Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik in Deutschland) zugrunde. Ergebnis: Die Autor_innen der Studie schätzen, dass sich der Anteil der Hörbeeinträchtigen in Deutschland alle fünf Jahre um etwa einen Prozentpunkt steigern wird. Demnach ist im Jahr 2020 mit 16,1 Prozent und in 2025 mit 17,1 Prozent hörbeeinträchtigten Erwachsenen in Deutschland zu rechnen. Es ist zwar davon auszugehen, dass sich in Deutschland die Lärmbelastungen vor allem an den Arbeitsplätzen generell verbessern. Der Faktor der demografischen Entwicklung mit einem steigenden Anteil älterer Menschen wiegt jedoch so schwer, dass die Forschenden insgesamt einen Anstieg im Vorkommen von Hörbeeinträchtigungen prognostizieren.

Mit HÖRSTAT wurde erstmalig das Hörvermögen Erwachsener in Deutschland basierend auf einer bevölkerungstypischen Stichprobe erhoben und mit internationalen Studien verglichen. Die Ergebnisse trugen dazu bei, eine wichtige internationale Norm zu aktualisieren, die für die Beurteilung von Lärmschwerhörigkeit herangezogen wird.

Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!

Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.

Das Projekt hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.
 

Ein Beitrag von:

  • Yukie Yasui
    Yukie Yasui

    yukie.yasui@jade-hs.de