Zwischen Berufspraxis und Hörsaal: „Angewandte Pflegewissenschaft“
ForschungsNotizen der "Innovativen Hochschule Jade-Oldenburg!"
An wen richtet sich der neue Studiengang der Angewandten Pflegewissenschaft an der Jade Hochschule?
Alexander Pauls (AP): Der Studiengang ist berufsbegleitend für examinierte Pflegefachkräfte gedacht, und bietet sich vor allem für Studierende aus Oldenburg und dem Umland an. Er umfasst acht Semester. Da die Berufsausbildung durch das additive Studiengangsmodell pauschal auf die ersten zwei Semester angerechnet wird, verkürzt sich das Studium auf sechs Semester.
Wie ist das Studium mit dem Schichtdienst der Pflegekräfte vereinbar?
AP: Planungssicherheit ist für Pflegefachkräfte natürlich wichtig, das weiß ich aus eigener Erfahrung als Pflegefachkraft und das haben uns die Einrichtungen in den Vorbereitungsgesprächen bestätigt. Wir bieten alle zwei Wochen zwei Präsenztage an – donnerstags und freitags. Im Wechsel damit gibt es Onlineunterricht am Freitag. Zusätzlich wird es am Ende des Semesters immer eine Woche Präsenzlehre geben. Alle Unterrichtsdaten sind schon vor dem Semesterbeginn bekannt, sodass die Studierenden sie rechtzeitig bei ihren Arbeitgeber_innen anmelden können. Ich denke, dass wir damit sehr gut fahren.
Was lernen die Pflegekräfte im Studiengang, das sie nicht bereits durch ihre Ausbildung oder Berufserfahrung mitbringen?
AP: Wir stehen mitten in einem Veränderungsprozess im Gesundheitswesen: Die Leute werden älter, gleichzeitig gibt es mehr und andere Behandlungsmöglichkeiten. In Zukunft werden mehr Patient_innen mehrfach erkrankt sein und unterschiedliche Behandlungen brauchen. Dadurch erhöhen sich die Anforderungen an die Pflegefachkräfte und alle anderen Gesundheitsfachberufe. Man hat schon vor einigen Jahrzehnten erkannt, dass langfristig multidisziplinäre Teams die Patient_innen versorgen müssen: Pfleger_innen, Physiotherapeut_innen, Ärzt_innen und weitere Berufsgruppen müssen die Therapien gemeinsam planen, durchführen und reflektieren.
Die Pflegefachkräfte lernen bei uns zum Beispiel die Evidenzbasierte Pflege. Das ist einer unserer wichtigsten Studienschwerpunkte. Sie lernen, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Versorgung einfließen zu lassen.
Ein Beispiel: Eine Pflegefachkraft hat einen beatmeten Patienten mit einem Problem im Mundraum. Die Pflegefachkraft ist für die spezielle Mundpflege verantwortlich. Dies stellt bei Menschen, die in den ersten Tagen einen Beatmungszugang über den Mund haben, eine pflegerische Herausforderung dar. Vor der Behandlung recherchiert die Pflegefachkraft anhand einer vorab aufgestellten Fragestellung und definierten Sachstrategien in internationalen Datenbanken nach relevanten Erkenntnissen zu diesem Problem. Sie wird von uns so ausgebildet, dass sie die Studien fachlich und kritisch bewerten und die wichtigsten neuesten Erkenntnisse in die Versorgung überführen kann. Danach überprüft sie den Behandlungserfolg.
Dieser Prozess der Evidenzbasierung folgt einem standardisierten Regelkreislauf, der ein genaues Vorgehen inklusive Dokumentation vorschreibt. Wird in der Forschung später eine noch sinnvollere Behandlung für das Pflegeproblem und Rahmenbedingungen bekannt, kann die Pflegefachkraft nach demselben Kreislauf neues Wissen identifizieren und anwenden.
Kristin Illiger (KI): Mit „Digitalisierung und Technologie“ gibt es einen zweiten großen Studienschwerpunkt. Außerdem lernen die Studierenden beispielsweise mehr über rechtliche Aspekte der Pflege und die Teilhabe von Pflegeempfänger_innen und Angehörigen.
In der Angewandten Pflegewissenschaft spielen Kommunikation und Interdisziplinarität eine große Rolle. Was vermittelt der Studiengang den Pflegefachkräften hierzu Neues?
KI: Zum Beispiel im Krankenhaus kann es in der Zusammenarbeit mit den anderen Berufsgruppen wie zum Beispiel Ärzt_innen zu Informationsverlusten kommen.
Daher bieten wir in dem Studiengang unter anderem Veranstaltungen zu Kommunikation und Teamarbeit an. Es geht darum, Kommunikation zu reflektieren: Welche Sprache sprechen die verschiedenen Fachdisziplinen? Wie arbeite ich mit meinem Team zusammen? Wie ist meine Rolle und Perspektive? Bin ich vielleicht Einzelkämpfer_in? Wie kann ich die anderen besser verstehen und mich besser verständlich machen?
AP: Um die interdisziplinäre Zusammenarbeit praktisch zu üben, bauen wir ein Lernlabor gemeinsam mit dem Studiengang Hebammenwissenschaft auf: Das Labor bekommt unter anderem einen Kreißsaal, eine kleine Wohnung, ein Patient_innenzimmer und ein Langzeitzimmer. Hier werden mit den Studierenden verschiedene Kommunikationsszenarien und Prozesse wie zum Beispiel eine Übergabe- und Notfallsituation trainiert: Wenn eine frischgebackene Mutter aus dem Kreißsaal kommt – wie läuft dann eine strukturierte Übergabe von der Hebamme zur Pflegefachkraft ab, ohne Zeitdruck und ohne, dass wichtige Informationen verloren gehen? Hierzu planen wir auch gemeinsame Übungen zusammen mit den Studierenden der anderen Studiengänge. In der Praxis hat man aus vielen Gründen oft Informationsverluste. Die Übungen werden auf Video aufgezeichnet. Anschließend diskutieren die Teilnehmenden, was gut und weniger gut gelaufen ist, was sich verbessern lässt.
Welche Zukunftsperspektiven bietet das Studium der Angewandten Pflegewissenschaft den Absolvent_innen?
AP: In Oldenburg werden zurzeit in verschiedenen Einrichtungen Pflegewissenschaftler_innen gesucht, zum Beispiel am Klinikum. Am Evangelischen Krankenhaus sind zwei Stellen im Bereich der erweiterten Pflegepraxis (Advanced Nursing Practice) offen: eine im Intensivpflegebereich und eine weitere in der Neurologie und Neurochirurgie. Die Ausschreibungen sind so konzipiert, dass die Pflegefachkraft neben der Versorgung zusätzlich wissenschaftliche Tätigkeiten und Aufgaben in der Fort- und Weiterbildung der Kolleg_innen übernimmt. Solche Stellen gab es bisher nicht.
Langfristig werden sich neue Stellenprofile entwickeln und ausdifferenzieren. Es wird einen Unterschied geben müssen zwischen akademisierten Pflegefachkräften – die zum Beispiel das wissenschaftliche Arbeiten übernehmen – und den fachschulisch ausgebildeten Pflegekräften.
Gut zu wissen für studieninteressierte Pflegefachkräfte
Wer sich für den Studiengang Angewandte Pflegewissenschaft der Jade Hochschule interessiert, kann die Beschreibungen zu den Modulen online im Modulhandbuch nachlesen. Hier wird aufgeführt, welches Wissen bei den Pflegefachkräften vorausgesetzt wird, damit sie im dritten Semester einsteigen dürfen. Außerdem ist dargestellt, welches Wissen die Studierenden in den folgenden Semestern erwerben.
Diejenigen, die eine spezialisierte Fachweiterbildung im Bereich der Notfallpflege, onkologischen Pflege oder Intensiv- und Anästhesiepflege haben, können das Studium um ein weiteres halbes Jahr verkürzen. Die enge Zusammenarbeit der Jade Hochschule mit dem Hanse Institut Oldenburg hat dies möglich gemacht. Das Institut ist auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pflegekräften im Nordwesten spezialisiert. Auch die Anrechnungen von anderen Fort- und Weiterbildungen ist möglich. Hierfür müssen die Lerninhalte mit den Modulen, die im Studiengang ersetzt werden sollen, individuell geprüft werden.
Weitere Informationen zum Studiengang Angewandte Pflegewissenschaft
Wie ist die Resonanz auf den Studiengang?
AP: Zum Start des Studiengangs haben wir sehr viele Anfragen von Pflegefachkräften aus Oldenburg und dem Umland bekommen. Viele beschäftigen sich schon lange mit der Idee, ein Studium aufzunehmen. Aber für sie waren Osnabrück und andere Städte, wo es vergleichbare Studiengänge schon länger gibt, zu weit. Durch den Schichtdienst und auch familiäre Verpflichtungen brauchen die Pflegefachkräfte Angebote in der Nähe. Jetzt haben wir 27 Studierende zum Wintersemester. Im Sommersemester werden weitere Studierende mit einer abgeschlossenen Weiterbildung dazu kommen, die statt sechs verkürzt nur fünf Semester belegen müssen.
KI: Auch die Pflegeeinrichtungen wünschen sich schon sehr lange Unterstützung für die größeren Veränderungsprozesse in der Pflege. Als wir die Einrichtungsleitungen und die Pflegedienstleitungen über unseren Studiengang informierten, waren sie begeistert, dass es losgeht. Sehr positiv sehe ich, dass die Einrichtungen auf uns zukommen und sagen, wir haben eine interessierte Pflegefachkraft – wie können wir ihr entgegenkommen, damit sie sich weiter qualifizieren kann? Was können wir tun, damit sie nach dem Studium bleibt?
AP: Deshalb haben wir bereits während der Konzeptionsphase die Bedarfe der Einrichtungen erhoben und die ersten Ideen mit unterschiedlichen Einrichtungen und Berufsgruppen aus der Pflege in einem Workshop diskutiert. Darüber hinaus werden die Studierenden innerhalb des 7. Semesters ein eigenes Forschungs-, Entwicklungs- oder Praxisprojekt im Wahlpflichtbereich durchführen, praktische Erfahrungen sammeln und das Erlernte aus dem Studium im Rahmen einer Hospitation anwenden.
Der Studiengang an der Jade Hochschule schließt mit dem Bachelor ab. Ist auch ein Master geplant?
KI: Die Universität Oldenburg plant aufbauend auf unserem Bachelor den Masterabschluss im Studiengang Advanced Nursing Practice (ANP). Der Masterstudiengang soll voraussichtlich 2024/25 starten. Wir tauschen uns eng mit den Kolleg_innen der Uni aus und entwickeln unsere Module so, dass ein guter Übergang vom Bachelor zum Master möglich wird. Vielleicht können wir künftig Lehrende der Uni in Seminare einladen, um schon während des Bachelors Einblicke zu geben, wie die akademische Laufbahn weitergehen kann. Neben dem Master ANP kann auch innerhalb der Jade Hochschule der Weiterbildungsmaster Public Health studiert werden.
Was ist das Besondere an der Masterqualifizierung für Pflegekräfte?
AP: Wenn man in Länder wie die Niederlande schaut, sind die Pflegefachkräfte auf Masterniveau die Pflegeexpert_innen. Die sitzen in den ambulanten Praxen, verschreiben Medikamente, steuern den Behandlungspfad. In der Notaufnahme führen sie sogar kleine chirurgische Eingriffe durch. Studien weisen darauf hin, dass durch diese Arbeitsteilung zwischen Ärzt_innen und Pfleger_innen die Patient_innen zufriedener mit der Behandlung sein können.
Mit Blick auf den Fachkräftemangel und die Arbeitsteilung zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen könnte so ein Modell insbesondere in den ländlichen Regionen wie in Niedersachsen irgendwann eine wesentliche Rolle einnehmen.
Wie geht es mit dem Studiengang weiter?
AP: Aktuell befinden wir uns mitten in den Berufungsverfahren für drei neue Professuren: eine für Pflegewissenschaft mit dem Schwerpunkt Klinische Pflege, eine für Pflege- und Gesundheitsmanagement und eine dritte für Digitalisierung und Technik in der Pflege, E-Care. Die Professor_innen werden den Studiengang weiterentwickeln. Zwischenzeitlich arbeiten wir in der Aufbauphase mit sehr erfahrenen Lehrkräften, wie zum Beispiel Frau Prof. Dr. Katharina Oleksiw, die als Gastprofessorin und kommissarische Studiengangsleiterin zusammen mit mir pflegefachliche und -wissenschaftliche Fächer und Themen unterrichtet. Ich persönlich fände es schön, wenn wir irgendwann hier in unserer Region von der schulischen Ausbildung bis zur Promotion alle Qualifikationsstufen für Pflegefachkräfte anbieten könnten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Über die Personen:
Kristin Illiger ist Medizinsoziologin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Technik und Gesundheit für Menschen der Jade Hochschule. In die Konzeption des Studiengangs der Angewandten Pflegewissenschaft an der Jade Hochschule brachte sie ihre wissenschaftliche Erfahrung und ihre Erfahrung in der Entwicklung von Weiterbildungsmöglichkeiten für Pflegekräfte ein.
Ihr Kollege und Wissenschaftlicher Mitarbeiter Alexander Pauls lehrt im Studiengang Angewandte Pflegewissenschaft unter anderem die Fächer „Professionalisierung in den Gesundheitsfachberufen“ und „Versorgungsmanagement“. Er war viele Jahre Pflegefachkraft in der Intensivpflege und studierte Pflegewissenschaft an der Hanzehogeschool in Groningen und Public Health an der Jade Hochschule.
Illiger und Pauls konzipierten den Studiengang Angewandte Pflegewissenschaft von 2018 bis 2021 zusammen mit Professorin Dr. Frauke Koppelin und in engem Austausch mit regionalen Pflegeeinrichtungen und den Einrichtungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildungen.
Lesen Sie hier auch unser Interview mit Kristin Illiger über „Alleinlebende mit Demenz“
Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!
Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.
Das Projekt hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.