Nach Schätzungen der Deutschen Alzheimergesellschaft lebten im Jahr 2019 etwa 1,6 Millionen an Demenz erkrankte Menschen in Deutschland. Täglich kommen rund 900 hinzu. Wie viele unerkannt oder ohne Betreuung an Demenz leiden, ist nicht bekannt. Da Demenz vor allem im höheren Alter auftritt und unsere Lebenserwartung steigt, wird sich der Anteil der Menschen mit Demenz in unserer Gesellschaft erhöhen.
Wie sieht die Situation in Oldenburg aus? Wie sind die Lebensbedingungen für Menschen, die allein leben und an Demenz leiden? Kristin Illiger vom Studiengang Public Health der Jade Hochschule untersucht diese Fragen und setzt sich für mehr Forschung und mehr inklusive Angebote für dementiell erkrankte Menschen ein.
FN: Im Rahmen Ihrer Doktorarbeit haben Sie sich mit dementiell erkrankten Menschen beschäftigt. Dafür haben Sie Mitarbeitende in ambulanten Pflegediensten in Oldenburg befragt. Wie viele Menschen mit Demenz leben hier alleine?
KI: Die Alzheimer Gesellschaft schätzt, dass etwa 3100 Menschen in Oldenburg an Demenz erkrankt sind. Ein Drittel der in ambulanter Pflege befindlichen Personen mit Demenz lebt allein. Diese Schätzung stimmt mit Daten aus anderen Regionen überein. Wir müssen jedoch von einer recht hohen Dunkelziffer ausgehen, weil es für Gesamtdeutschland kein Demenzregister gibt.
FN: Wie ist die Lebenssituation der allein lebenden an Demenz erkrankten Menschen im Vergleich zu denen, die mit Angehörigen leben?
KI: Wer an Demenz erkrankt und allein lebt, benötigt tendenziell mehr ambulante Pflege. Dementiell erkrankte Personen erleben sich außerdem oft nicht als krank und suchen so kaum aktiv Hilfe. Wenn jemand in einem Mehrpersonenhaushalt lebt, fallen die Symptome hingegen stärker den anderen auf. Alleinlebende haben das Risiko, dass ihre Situation erst spät erkannt wird. Sie können dadurch in eine prekäre Versorgungssituation geraten und unzureichend oder nicht versorgt sein. Aber es wäre gefährlich, das zu verallgemeinern. Manchmal kümmern sich auch Nachbar_innen, oder Angehörige und Freunde kommen regelmäßig vorbei.
FN:Sie haben auch mit den dementiell erkrankten Menschen selbst gesprochen. Wie sehen die Betroffenen ihre Situation?
KI: Ich habe zwölf Personen interviewt und sie alle als relativ zufrieden und dankbar erlebt. Das fand ich sehr schön. Unter anderem beschäftigte ich mich mit der eingeschränkten Krankheitswahrnehmung einiger erkrankter Personen. Die medizinische Diagnostik betrachtet Krankheitsuneinsichtigkeit häufig als Symptom. Ich fragte mich, ob man sie nicht auch als Bewältigungsstrategie verstehen kann. Die Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, zeigten tatsächlich Verhaltensweisen, die wir Sozialforschenden so interpretieren. Manche haben sich sehr proaktiv mit ihrer Erkrankung auseinandergesetzt und zum Beispiel an Gedächtnistrainings und Selbsthilfegruppen teilgenommen. Die anderen haben ihre Erkrankung eher „reaktiv erduldet“ – so beschreibe ich das. Sie betrachteten ihre Symptome eher als normale Alterserscheinung und bagatellisierten oder relativierten sie. Sie sagten dann: „Ich kann noch super laufen, mir schmeckt noch das Essen…“ oder verglichen sich mit gleichaltrigen Personen, die körperliche Beschwerden hatten. So erhielten sie sich ein gewisses Maß an Selbstwertgefühl. Das ist auch eine wichtige Form der Bewältigung.
FN: Wie dachten Ihre Interviewpartner_innen über die Option, in ein Pflegeheim zu ziehen?
KI: Für einige kam in Zukunft eine Übersiedlung in ein Pflegeheim infrage. Alle, mit denen ich gesprochen habe, wollten aktuell aber alleinlebend in der gewohnten Umgebung bleiben. Das war den Interviewten unheimlich wichtig. Unabhängig vom Stadium ihrer Demenz haben sie sehr betont, wie gut sie allein zurechtkommen. Selbst wenn sie das Laufen verlernt hatten und bettlägerig waren.
Mein Eindruck ist außerdem, dass für die Betroffenen die Demenzerkrankung nicht vordergründig wichtig war. Obwohl sie allein leben wollten, waren Einsamkeit und Isolation das größte Thema. Das galt selbst für diejenigen mit Angehörigen, die alle paar Tage zur Pflege und Haushaltshilfe vorbeikamen. Sie sprachen viel über Verluste, vor allem über den Verlust des Ehepartners oder der -partnerin.
Aufgrund dieser Gespräche denke ich, man muss Demenz ganzheitlich betrachten und die emotionalen und sozialen Aspekte mehr berücksichtigen, als es bisher der Fall ist. Es wird sehr schnell auf die instrumentellen Fragen wie die körperliche Pflege und die Organisation des Haushalts geschaut. Diese Dinge sind wichtig, aber eben nur ein Teil dessen, was gute Pflege ausmachen kann.
FN: War es schwierig, die dementiell erkrankten Personen selbst zu befragen?
KI: Zu Beginn meiner Doktorarbeit waren einige Vertreterinnen und Vertreter aus der Forschung und Praxis sehr skeptisch bezüglich der Idee, die Betroffenen direkt zu befragen. In aller Regel werden Angehörige oder Pflegekräfte stellvertretend befragt. Ich habe biografische Interviews geführt und die Personen erst einmal aus ihrem Leben erzählen lassen. Alle konnten sich gut und mindestens an die ersten 30 Jahre ihres Lebens erinnern. Die Dinge, an die sich an Demenz erkrankte Menschen erinnern, sind ja nicht falsch oder unwahr. Viele handeln nach ihrer eigenen Wahrheit. Wenn ein Mensch sich gerade als 40-jährigen Arbeiter bei der Bahn wahrnimmt, steht er zur passenden Zeit auf, um zur Arbeit zu gehen. Das hat auch etwas Rührendes. Wenn das Umfeld diese Innensicht kennt, wird vieles im Alltag leichter.
FN: Wie lässt sich aus Ihrer Sicht die Betreuung von Alleinlebenden mit Demenz in Oldenburg verbessern?
K: Der Welt Alzheimer Verband hat im letzten Jahr durch Befragungen von dementiell erkrankten Personen festgestellt, dass deren größtes Problem das gesellschaftliche Stigma ist. Daher ist die Aufklärung über die Erkrankung weiterhin zentral.
Auch wäre es schön, mehr Selbsthilfe in niedrigschwellige Freizeitangebote oder Tagespflegeangebote zu integrieren, in denen sich Betroffene ganz natürlich über ihre Krankheit austauschen können. In manchen Städten gibt es zum Beispiel Demenzkinos, die erkrankte Personen mit ihren Angehörigen besuchen können. Dort ist es normal, wenn jemand singt oder aufsteht und sich weniger „kontrolliert“ verhält. Ein anderes Modellprojekt ist das Patenschaftskonzept der Hamburger Alzheimer Gesellschaft. Alleinlebende mit Demenz bekommen einen Paten oder eine Patin, der oder die sich um alle Belange kümmert, wenn familiäre und soziale Unterstützungsressourcen fehlen. Das wäre auch für Oldenburg ein schöner inklusiver Ansatz.
FN: Was können wir tun, wenn wir vermuten, dass eine Person im eigenen Umfeld an Demenz erkrankt, und die- oder derjenige keine nahen Angehörigen mehr hat?
KI: Das ist nicht ganz leicht zu beantworten und hängt davon ab, wie nah man der Person ist. Wenn man die Person etwas besser kennt, kann man sich vielleicht ganz locker selbst zum Kaffee einladen und sich einen Eindruck von der häuslichen Situation verschaffen. Je nachdem, wie es der Person geht, kann man dann konkrete Hilfe anbieten, im Haushalt oder vielleicht mit dem Einkauf. Während der Coronapandemie ist es ja selbstverständlicher geworden, Hilfe anzubieten und auch anzunehmen.
Eine ganz andere Situation ist es, wenn vielleicht in der Nachbarschaft eine Person lebt, deren Wohnung schon von außen als verwahrlost zu erkennen ist, man schlechte Gerüche wahrnimmt und die Person nicht zugänglich ist, wenn man sie anspricht. In so einem Fall kann man den formellen Weg gehen und den sozialpsychiatrischen Dienst bitten, vorbei zu kommen. Möglichkeiten für Dritte bietet beispielsweise auch die Berechtigung, Anträge auf rechtliche Betreuung zu stellen. Grundsätzlich sind Menschen auf ein aufmerksames Umfeld angewiesen. Daher ist wichtig und wünsche ich mir, dass sich Wissen über die Erkrankung in unserer Gesellschaft weiter verbreitet.
Folgende Anlaufstellen für Menschen mit Demenz und deren Angehörige in Oldenburg empfiehlt Kristin Illiger:
Alzheimer Gesellschaft Oldenburg
Senioren- und Pflegestützpunkt Niedersachsen (SPN) der Stadt Oldenburg
DemenzNetz Oldenburg im Versorgungsnetzwerk Gesundheit
DIKO – Demenz-Informations- und Koordinationsstelle Oldenburg
Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!
Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.
Das Projekt hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.