„Tabus können etwas Gutes sein!“ – ein Interview mit Melanie Hellwig
Tabus und Tabubrüche aus Sicht der Kommunikationswissenschaft
Sie haben über das Tabu promoviert. Was ist ein Tabu?
Das Tabu hat eine normative Funktion. Es regelt Verhalten. Tabus wie Inzest, illegale Abtreibung oder Volksverhetzung sind in der Regel jedem bekannt. Tabuisierung schützt den Einzelnen und die Gemeinschaft vor der Handlung oder auch vor Themen.
Tabus definieren sich außerdem über die Folgen, die ein Tabubruch nach sich zieht. Tabubrecher werden deutlich verurteilt und bestraft. In unserer Gesellschaft bestehen die Strafen bei Tabubrüchen, die gleichzeitig gegen das Gesetz verstoßen, aus gerichtlichen Verurteilungen. In früheren Gemeinschaften, die noch keine Rechtsprechung kannten, griffen Ausgrenzungen aus der Gemeinschaft. Der Tabubrecher wurde ausgestoßen, musste die Gemeinschaft verlassen und allein überleben.
Mit Ihrer Doktorarbeit haben Sie das Tabu aus Sicht der Kommunikationswissenschaft untersucht. Wie ist die Idee entstanden?
2006 war ich am Buchprojekt „Press, Freedom and Pluralism in Europe“ beteiligt. Wir waren eine internationale Arbeitsgruppe, und einige Kolleginnen berichteten, dass in ihren Ländern bestimmte Themen tabusiert waren. Dass Tabus in Demokratien die Pressefreiheit einschränken können, fand ich spannend. Professor Dr. Markus Behmer von der Universität Bamberg hat mich dann ermutigt, aus den Fragestellungen eine Promotion zu entwickeln. Er war damals ebenfalls in der Arbeitsgruppe und wurde später mein Doktorvater und Erstprüfer.
Von welchen Tabus haben Ihre Kolleginnen damals berichtet?
Die spanische Kollegin sagte, dass es für Journalisten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks tabu war über das spanische Königshaus zu berichten – es sei denn, es trat selbst an die Presse heran. In Finnland war es vor dem EU-Beitritt des Landes tabu, kritisch über Russland zu berichten. Nach dem EU-Beitritt berichtete niemand negativ über die EU. In den Gesprächen von damals liegt der Ausgangspunkt für meine Promotion. Die Tabus, die ich gerade erwähnte, haben sich in beiden Ländern seitdem gewandelt. In Finnland gibt es inzwischen sogar eine Anti-EU-Partei.
Welche Fragestellung haben Sie mit Ihrer Promotion bearbeitet?
Im ersten Teil meiner Arbeit habe ich das Tabu aus Sicht der Kommunikationswissenschaft beleuchtet. Das hatte vorher noch niemand getan. Meine Fragen waren: Was ist das Tabu eigentlich? Wie kann man es für die Kommunikationswissenschaft beschreiben? Welche Aspekte sind relevant? Dem schließt sich ein zweiter empirischer Teil an, eine Inhaltsanalyse. Dafür habe ich mir die Berichterstattung in den Medien über ein bestimmtes Tabuthema angeschaut – mit der Fragestellung, ob man das Tabu in den Medien erkennen kann.
Und?
Das kann man. Man kann sogar den Status eines Tabus an der Berichterstattung in den Medien ablesen. Wenn ein Tabu sehr stark ist, werden die Tabubrecher verurteilt und wird das Tabu argumentativ verstärkt. Das passiert zum Beispiel beim Inzest-Tabu, das nach wie vor ein absolut starkes Tabu ist.
Aber auch Normen und Tabus können verschwinden. Es kann den Punkt geben, an dem sich gesellschaftlich so viel verändert, dass über ein Tabu nicht mehr gewacht wird, dass es an Macht verliert. In der Umbruchphase eines Tabus gibt es ein Abwägen und einen Austausch von Argumenten, ohne dass jemand verurteilt wird.
Sie haben den Status des Tabus der Abtreibung anhand der journalistischen Berichterstattung untersucht. Was ließ sich ablesen?
Ich habe die Wirkung des Stern Artikels „Wir haben abgetrieben“ von 1971 analysiert. Mit dem Artikel haben sich 374 teilweise prominente Frauen mit Adresse und Unterschrift dazu bekannt, abgetrieben zu haben. Der Artikel war als politische Aktion gedacht und wurde zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, zu dem das Tabu der Abtreibung bereits im Wandel begriffen war. Dieser deutschen Veröffentlichung war im Frühjahr 1971 im französischen Magazin Le Nouvel Observateur ein vergleichbarer Artikel vorangegangen. Dort hatten sich 343 prominente Französinnen zur Abtreibung bekannt, die auch in Frankreich unter Strafe stand. Die Wirkung dieses Beitrags wurde in Deutschland spürbar.
In dieser Zeit wandelte sich das Tabu so sehr, dass sein Bruch nicht mehr bestraft wurde. Das spiegelte sich in den Medien. Der Stern Artikel traf auf große Resonanz. Gegen die genannten Frauen wurden zunächst Ermittlungen eingeleitet, aber keine von ihnen wurde strafrechtlich verurteilt. Auch die Presse hat sie nicht verurteilt. Alle Artikel, die ich analysiert habe, erläuterten vielmehr die Hintergründe des Tabubruchs. Mein Untersuchungszeitraum war von 1962 bis 1976, dem Jahr, in dem in Deutschland eine neue Gesetzgebung zur Abtreibung endgültig verabschiedet wurde.
Kommunikationswissenschaftlich ist am Ende der öffentlichen Diskussion eine interessante Situation entstanden, denn es gibt keine sogenannte öffentliche Meinung zu dem Thema. Vielmehr ist es so, dass es eine Mehrheit gibt in der Bevölkerung, die die Entscheidung den Frauen überlassen will, und es gibt eine meinungsstarke andere Gruppe, die ganz klar eine andere Position einnimmt mit dem Argument, dass Abtreibung Mord ist. Dazu gehören die katholische Kirche, das Bundesverfassungsgericht und sogenannte Lebensrechtsgruppen.
Welche Bedeutung hat das Tabu für Sie persönlich?
Tabus, die konsequent gelebt werden, sind für mich etwas sehr Positives. Sie schützen den Einzelnen und die Gemeinschaft vor Verletzung, Schädigung und Straftaten. Trotzdem ist es wichtig, Tabus immer wieder zu hinterfragen. Nicht in dem Sinne, dass man sie alle einreißen sollte. Vielmehr sollte man sich regelmäßig fragen, ob ein Tabu immer noch gesellschaftlich nützlich und sinnvoll ist.
Aber Tabus können Kehrseiten haben. Wird ein Tabu gebrochen, zum Beispiel das des sexuellen Missbrauchs, und die Tat nicht aufgedeckt, kann es sogar den Täter schützen. Teilweise sprechen die Opfer ja nicht über die Tat. Dann haben Menschen im Umfeld zwar Ahnungen gehabt, aber keine klaren Hinweise. Umgekehrt kann ein Unschuldiger durch den Vorwurf des Tabubruchs in Misskredit gebracht werden. Auch auf individueller Ebene muss man also sensibel hinsehen.
Vor welchen Herausforderungen standen Sie während Ihrer Promotion?
Viele Jahre habe ich sozusagen nebenbei an meiner Promotion gearbeitet. Währenddessen habe ich mein Kind großgezogen und Vollzeit gearbeitet. Meine größte Herausforderung war, Zeit für die Promotion zu finden. Vor etwa drei Jahren wurde meine Stelle neu beschrieben. Seitdem habe ich einen Anteil von 30 Prozent, mit dem ich selbst forschen oder andere Forschende unterstützen kann. Dadurch konnte ich mich zumindest während der vorlesungsfreien Zeit vier bis sechs Wochen am Stück mit meiner Dissertation beschäftigen und wirklich vorankommen.
Wie geht es nach der Promotion weiter?
Mit meiner Doktorarbeit konnte ich nur ein kleines Fallbeispiel beleuchten. Jetzt geht es darum, das, was ich gefunden habe, anhand weiterer Fälle vor allem aus der neueren Zeit zu überprüfen. Denn seit dem Auftreten von Social Media hat sich gewaltig etwas in den Medien geändert. Ich werde also an dem Thema weiterforschen. Am liebsten möchte ich weitere Beispiele in Lehrveranstaltungen analysieren.
Und es wäre spannend, in Kontakt mit Ethnologen und Psychologen zu kommen. Auf Basis von Literatur habe ich mich mit deren Sicht auf Tabus beschäftigt. Aber auf persönlicher Ebene Impulse aus anderen Disziplinen zu bekommen, wäre schön.
Liebe Frau Hellwig, vielen Dank für das Gespräch.
Über die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg!
Die Innovative Hochschule Jade-Oldenburg! wurde als Transferprojekt der Universität Oldenburg, der Jade Hochschule und des Informatikinstituts OFFIS, An-Institut der Universität, im Projektzeitraum 2018 bis 2022 mit rund elf Millionen Euro durch die Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ gefördert.
Das Projekt hat innovative Ideen, Hochschulwissen und neue Technologien in die Zielregion getragen und den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gegeben, Wissenschaft aktiv mitzuerleben. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor_innen.